Antworten auf Lebensfragen

Warum werde ich immer in die Schwierigkeiten
anderer Menschen verstrickt?


Lieber Freund,

Deine Frage ist so menschlich und sieht uns allen so ähnlich. Wir sind einander in mancherlei Hinsicht gleich!
Vielleicht wirst Du verstrickt, weil Du die Menschen so sehr liebst. Wenn wir von Liebe erfüllt sind, ist es nur
natürlich, dass wir verstrickt werden. Liebe gibt sich, weil sie die große Notwendigkeit zum Geben fühlt.

Du kannst geben, ohne zu lieben, aber Du kannst nicht lieben, ohne zu geben. Liebende Menschen sind Menschen, die aus ihrem Kreis hinausgehen, die jede Aufgabe übernehmen, um ihre Liebe auszudrücken. Menschen, die sehr lieben und stark empfinden, werden manchmal stark verstrickt. Es ist etwas Wunderbares um das Lieben und das Verstricktwerden, weil wir nicht nur in die Schwierigkeiten der Menschen verstrickt werden, sondern auch in ihre Siege, ihre Freuden und das Gute, das zu ihnen kommt. Gesellschaft, ob innere oder äußere, ist der Preis des Lebens.

Du fragst: „Warum werde ich immer in die Schwierigkeiten anderer Menschen verstrickt?“ Vielleicht bist Du eine starke Persönlichkeit, sodass andere Menschen sich in ihrer Not an Dich wenden.

Es ist erstaunlich, wie sehr wir uns in einer inneren, unsichtbaren Weise aufeinander stützen und verlassen können. Wir gewinnen eine innere Kraft ohne äußere, bewusste Bemühung.

Wenn wir nur an irgendwelche Menschen denken, können wir aufgerichtet und erneuert werden. Das ist die wunderbare Gemeinschaft des Geistes, die in ihrer Kraft überraschend ist. Diese Menschen sind uns vielleicht nicht nahe, wenn wir Nähe nach äußeren physikalischen Beziehungen messen.

Wir sind einem Menschen außerhalb unserer Familie oder fern von denen, die wir als dem Bereich „unserer Schwierigkeiten“ zugehörig betrachten, vielleicht näher. Wenn wir beständig an Menschen denken und sie uns immer wieder in den Sinn kommen, gewinnen sie vielleicht unbewusst Glauben und Kraft von uns. Wir haben ihnen etwas zu geben. So ist es gut, die engen inneren Beziehungen zu verstehen, die uns alle angehen.

Vielleicht wirst Du in die Schwierigkeiten anderer Menschen verstrickt, weil Du eine überentwickelte Neugier für
andere Menschen und für das, was ihnen zustößt, besitzt. Worauf wir unseren Geist und unsere Gefühle richten, darin können wir verstrickt werden. Manchmal ist Neugier Interesse und ist damit gut; aber manchmal ist Neugier eine Leere in uns selbst und wir versuchen, diese Leere mit dem Leben anderer Menschen zu erfüllen, anstatt unser eigenes Leben zu führen und unseren eigenen Ausdruck hervorzubringen. Das ist ein stellvertretendes Leben, das die Nöte des Lebens nicht decken kann.

Es gibt eine große Gefahr im Leben ‑ die Gefahr, es nicht zu leben. Viele Menschen gehen am Leben vorbei.
Sie nehmen ihr eigenes Leben nicht wie es kommt und führen es nicht voll und erfolgreich, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, die Angelegenheiten anderer Menschen zu ordnen und umzuordnen. Wir haben der irrtümlichen Auffassung gehuldigt, dass das Geben an andere und das Leben für andere unser Gutes bringen würde.

Das ist nur die halbe Wahrheit. Wir müssen uns leben und entfalten, sonst sind wir für niemand eine Hilfe. Wie
können wir anderen helfen etwas zu tun, was wir selbst nicht tun können? Wir müssen durch etwas, das in uns
ist, geführt werden und wir müssen jedem anderen erlauben, dieselbe Freiheit zu haben.

Eine der tiefsten und zuweilen schmerzlichsten aller Wahrheiten, die wir lernen müssen, ist die, dass wir uns
zunächst selbst treu sein müssen, wenn wir anderen eine Hilfe sein sollen. Wir waren der Auffassung, dass
blindes Opfer und das Erfreuen anderer der höchste Dienst wäre, aber wenn wir dieser Auffassung folgen,
stellen wir fest, dass sie unserem eigenen, höchsten Guten nachteilig ist. Wir sind krank, arm und unglücklich
daraus hervorgegangen und unsere ganze Substanz ist auf andere übergegangen. Manche Menschen sind
zerrissen und verloren bei dem Versuch, andere Menschen zu erfreuen, anstatt ihrem eigenen Lebensentwurf
treu zu sein. Das ist ebenso töricht, als wollte eine Rose versuchen, eine Chrysantheme zu sein.

Wenn Du ein Leben des Opferns und Dienens führst, entwickelt sich vielleicht eine tiefe Verstimmung in Deiner eigenen Seele und Du wirst feststellen, dass Du innerlich und äußerlich krank bist. Du wirst bald glauben, dass Dich die Leute nicht anerkennen oder dass sie Deine Bemühungen für sie nicht schätzen; Du findest, dass Du davon abhängig bist, wie sie auf das, was Du für sie tust, reagieren, anstatt zufrieden zu sein, wenn Du Dein eigenes Leben führst.

Nur wenn wir unser eigenes Leben gut führen, finden wir Zufriedenheit. Diese Gefühle, dass Du nicht anerkannt wirst und dass die Menschen Dir gegenüber undankbar sind, sind Symptome des Selbstmitleids, welches sich daraus entwickelt, dass Du den Angelegenheiten anderer Menschen zu viel Aufmerksamkeit zollst, anstatt Dich Deinem eigenen Wachstum und Deiner Entfaltung zu widmen. Wahre Zufriedenheit wird entdeckt, wenn jeder Mensch die Quelle des Lebens in sich findet und wenn jeder einzelne Mensch seinem eigenen Antrieb entspricht.

Wenn Du darauf bestehst, den Ideen und Anweisungen andererMenschen zu folgen oder ihnen Deine Ideen und Anweisungen zu geben, dann gerätst Du in vollkommene Verwirrung. Weder Du noch sie werden die wahre, innere Führung hören, die in allen Menschen ist.

Ja, Du sollst anderen Menschen dienen und sie lieben ‑ aber sei zunächst Dir selber treu. Wie Shakespeare
sagt: „Sei dir selber treu. Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage, du kannst nicht falsch sein gegen
irgendwen.“
Wenn wir auch belehrt worden sind, dass das Leben für andere an erster Stelle kommt, dürfen
wir uns doch nicht in Fallen fangen lassen. Manchmal sind dies Familienfallen, manchmal sind es Fallen, die
durch die Liebe, durch Verpflichtungen und durch die Pflicht gestellt werden.

Jeder von uns muss unabhängig sein ‑ jeder muss von dem abhängen, was in ihm ist. Mein Vater pflegte zu
sagen: „Wo Glück sein soll, da muss jedes Fass auf seinem eigenen Boden stehen.“ Jeder von uns muss
sicher gegründet sein im Mittelpunkt seines eigenen Selbst. Wir haben oft gefühlsmäßige Bindungen in der
Freundschaft, im Geschäft, in der Liebe und in physischen Beziehungen gehabt, die uns Angst machten. In
allen diesen Fällen können wir in Situationen und Verhältnisse geraten, aus denen wir uns nicht ohne großen
Schmerz für uns und andere frei machen können. Oft zögern wir, dies zu tun und so setzen wir eine unmögliche
Situation immer weiter fort. Lasst uns unsere Knoten so lose wie möglich knüpfen. Lassen wir alle frei sein, dass
wir uns ohne Fesseln regen können. Lasst uns starke Beziehungen auf die Freiheit bauen.

Oft glauben wir, Freiheit bedeute ein Vorbeigehen an den Menschen ‑ aber das stimmt nicht. Wir haben Angst,
wir könnten die Menschen enttäuschen, aber es ist viel schlimmer, wenn wir uns selbst enttäuschen. Wagst Du
es, Dir treu zu sein? Natürlich hast Du die Kraft, aber gebrauchst Du sie? Kannst Du der Kritik, der Verurteilung
und der blinden Liebe anderer widerstehen und Deine eigene Ausgeglichenheit im Leben bewahren? Kannst
Du auf Dein eigenes Herz hören und erkennen, was Du tun solltest? Kannst Du Deinen Weg gehen und es tun?

Mancher Mensch richtet und verurteilt sich durch das Gefühl, dass er an anderen vorbeigegangen ist, selbst wenn
Herz und Seele über Verhältnisse weinen, die für ihn unwahr sind und nicht die Erfüllung seines Lebensgesetzes
sein können. Viele unterwerfen sich unaufhörlich dem, was sie für ein schönes Aushängeschild halten mit der
Aufschrift: „Ich tue meine Pflicht.“

Das ist nicht die Wahrheit. Jeder muss zuerst seinem eigenen Selbst treu sein. Wenn Du nicht weißt, wem Du treu sein sollst oder wenn Du nicht weißt, was Du tun sollst, dann musst Du vielleicht lernen, auf die innere Stimme Deiner Seele zu hören. Deine Stimme in Dir wird Dir immer wieder sagen, was Du tun sollst. Du hörst nicht immer darauf, denn stärker als diese Stimme in Dir ‑ diese Stimme, die Dich zu Frieden Wahrheit und Güte führt ‑ ist die Stimme, die Dir von den menschlichen Bindungen erzählt, die Du eingegangen bist, die Stimme des äußeren Sinnes, die Dich ängstlich macht, Du könntest einen anderen Menschen verletzen oder enttäuschen. Bedenke, dass Du niemand auf lange Zeit enttäuschen kannst, weil Du zu keinem Menschen falsch sein kannst, wenn Du
Dir selber treu bist. Nur Gutes kann für jeden dabei herauskommen.

Lasst uns nicht jeden Schritt im Leben erörtern. Selbst wenn andere sich entrüsten und sagen, wir seien egoistisch, unredlich und herzlos, wollen wir uns selbst treu bleiben. Wenn wir tun, was uns unsere innere Stimme sagt, können wir keinen Menschen verletzen oder ihm Unrecht tun.

Glaube nicht, dass Du durch andere Menschen Deinen Frieden verlierst. Du kannst durch das, was andere
Menschen tun, Deinen Frieden nicht verlieren. Du verlierst Deinen Frieden durch das, was Du selbst unterlässt
zu tun. Du musst Deine eigene Seele befriedigen und Dich führen lassen durch den Geist des Lebens, welches
Dein Leben ist. Nimm Dich selbst in Acht und Du kannst andere nicht im Stich lassen.


 

Datenschutzhinweis

Diese Webseite verwendet Cookies und externe Komponenten. Durch die Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies und externen Komponenten zu. Datenschutzinformationen